Seit dem 19. Jahrhundert war Oberbilk die Düsseldorfer Arrival City für neu ankommende Arbeitsmigranten. Malocher aus Belgien, der Eifel und Osteuropa wurden im großen Schmelztiegel der Schwerindustrie zu Einheimischen gemacht, deren Nachkommen heute die Durchschnittsbevölkerung bilden. In der Folge von wirtschaftlichen und politischen Großwetterlagen vergrößerten sich die Einzugsgebiete des Viertels immer mehr, so dass heute alle Wachstumsringe der Globalisierung an ihm abzulesen sind.
In seiner Geschichte hat das Quartier hinter den Bahngleisen einige Wellen erlebt, von wegschauendem Herabsinken bis zu aufgeputschter Faszination am selbstgemachten „Fremden“. Während in den letzten Jahren Medien und Auswärtige hier eine Melange aus Kriminalität und Entwicklungsbedarf entdeckten, die aus den immer gleichen Bildern angerührt wird, folgt als Gegenreaktion freundlich gemeinter Exotismus, und es schwappt eine Welle von Kulturprojekten ins Viertel.
Wie navigieren zwischen diesen Polen? SONGBOOK OBERBILK ist der Auftakt für eine einjährige Beschäftigung mit dem Viertel zwischen Traditionen und Umbruch, jenseits von Klischees und schnellen Bildern. Was bedeutet das Quartier für seine Bewohner*innen selbst? Welche neuen Identitäten können sich hier bilden – oder sind es die alten, die festhalten? Ist Oberbilk eines der Gewächshäuser, in dessen Alltag Muster für kommende Gesellschaften heranwachsen – oder geht es um die eindämmende Verwaltung von Marktverlusten? Und wenn die Bahnhofsgegend in den kommenden Jahren „aufgewertet“ werden soll – werden dann die Straßen und Plätze um die Ellerstraße für Großinvestoren freigegeben, um als „Petite Marrakech“ vermarktet zu werden? Sind die gewachsenen Strukturen des Viertels stark genug, um einer unreflektierten Immobilienpolitik zu widerstehen – oder kommt die Gentrifizierung vielmehr den Ansässigen selbst zugute?
Die erste Annäherung folgt den Songlines einiger Bewohner*innen und Menschen, für die das Viertel eine zentrale Rolle in ihrem Alltag spielt: Wenn Oberbilk eine Arrival City ist, in der sich Urbanität erneuert und zukünftige Gesellschaften entstehen – wie bilden sich diese heraus? Gibt es Hinterhof-Produktionen hybrider Wertvorstellungen zwischen Herkunft und Unbekanntem? Familienbetriebe, aus denen neue politische Teilhabe hervorgeht? Sind es Kneipen, Vereine oder religiöse Orte, in denen die Neuen den Einbürgerungstest ins Quartier ablegen?
Inmitten eines trubeligen Samstags im Viertel können die Besucher*innen an eingebetteten Sound-Stationen persönliche Field Recordings hören zu lang vorbereitetem Reichtum und überraschendem Verlust, unerschütterlicher Zuversicht und permanenten Updates von Grundwerten.
Jörg Lukas Matthaei
Von und mit: Youssef Cheraa, Jörg Lukas Matthaei, Anna-Luella Zahner und vielen anderen