Jan Hoeft
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Jan Hoeft

JAN HOEFT
I FEEL YOU

 

Ort:
Heinz-Schmöle-Straße /
Ecke Velberter Straße

 

Text:
Barbara Hess

 

English version

Im englischen Sprachraum ist die Formulierung „I feel you“ eine womöglich ebenso rhetorische Versicherung des Mitgefühls, wie die Frage „How are you?“ nicht darauf abzielt, dem Befinden der Befragten wirklich auf den Grund zu gehen. Jan Hoefts Installation I feel you spielt auf die Erwartungen und Enttäuschungen an, die im sozialen Theater des Miteinanders an der Tagesordnung sind.

 

Als Bauschild am Rande des Bertha-von-Suttner-Platzes warf die Arbeit beim Publikum zunächst Fragen bezüglich des dahinterliegenden kleinen Parks auf: Sollte diese Oase auf der Rückseite des Hauptbahnhofs einem der unzähligen Investorenprojekte weichen, die seit Jahren immer mehr bezahlbaren Wohnraum und freie Flächen verdrängen? Tatsächlich zeigt das Bildmotiv der Plakatwand eine vertraut erscheinende, stereotype Wohnanlage mit bodentiefen Fenstern, feuerverzinkten Balkonbrüstungen und ein paar Hochbeeten, bevölkert von exemplarischen Bewohnerinnen und Bewohnern der jüngeren Generation mit globalisierten Lebensläufen. Das Bildpersonal des Tableaus erscheint ebenso versatzstückhaft wie die dargestellte Architektur – ein Soziotop aus digitalen Readymades, die der Künstler in Datenbanken eingekauft hat. Die Standardisierung von äußeren und damit vielleicht auch inneren Lebenswelten, von der das Bauschild erzählt, reicht bis in Details wie das Raster der Schrauben, die sich ohne Rücksicht auf das Dargestellte durch die Oberflächen bohren.

Erst auf den zweiten Blick zeigten sich auf der Oberfläche der Tafel noch andere, organischere Verletzungsspuren, die im Lauf der Zeit deutlicher wurden. Aus den Augen der fünf Bewohnerinnen und Bewohner der Anlage ergoss sich unablässig ein dunkler Tränenstrom, den ein mit Solarenergie betriebenes Pumpensystem in Gang hielt. Zwischen der so perfekten wie sterilen Welt der Wohnanlage und der emotionalen Verfassung ihrer Bewohner schien eine Kluft zu bestehen, die einen Tabubruch auslöste: Weinen in der Öffentlichkeit.

 

 

Ganz offensichtlich vergießen die Protagonistinnen und Protagonisten von Hoefts I feel you künstliche Tränen – wobei Tränen immer schon dem Verdacht ausgesetzt waren, nicht „echt“, sondern manipulativ zu sein. Andererseits wurde Weinenden (vor allem Frauen) seit dem 18. Jahrhundert, etwa von Jean-Jacques Rousseau, auch das Potenzial zugeschrieben, ein (vorwiegend männliches) Gegenüber zu mehr Sensibilität zu erziehen. Als „Ausdruck innerer Regungen sind Tränen nicht nur bezogen auf den Weinenden selbst, sie haben immer auch und von Anfang an eine kommunikative Funktion.“[1] Um ein Gegenüber innerlich zu bewegen, müssen Tränen also nicht echt sein – wie alle, die schon einmal im Kino geweint haben, wissen. Als Ausdruck und Zeichen von Lebendigkeit bilden Tränen eine „Affekt-Brücke“[2] und machen auf ein Element aufmerksam, das in der Investorenfantasie des Bauschilds offenkundig fehlt.

 

 

[1]Siehe hierzu ausführlicher Beate Söntgen und Geraldine Spiekermann, „Tränen. Ausdruck – Darstellung – Kommunikation. Eine Einführung“, in: dies. (Hg.), Tränen, München 2008, S. 9–16, hier S. 10.

[2] Der Begriff stammt von dem Romanisten und Rhetoriker Heinrich Lausberg;siehe Söntgen/Spiekermann 2008, S. 12.

I FEEL YOU

 

In the English-speaking world, the phrase “I feel you” is perhaps just as much a rhetorical assurance of empathy as the question “How are you?”, which is not aimed at really getting to the bottom of the respondents’ condition. Jan Hoeft’s installation I feel you alludes to the expectations and disappointments that are all part of the social theater of interaction.

As an apparent construction sign on the edge of Bertha-von-Suttner- Platz, the work first raised questions with the public regarding the small park behind it: Was this oasis at the back of the main station to give way to one of the myriad investment projects that have been displacing more and more affordable housing and open spaces for years? The billboard image shows a familiar-looking, stereotypical housing complex with floor-to-ceiling windows, hot-dip galvanized balcony balustrades, and a few raised flower beds, populated by exemplary residents of a younger generation with global lifestyles. The people in the tableau seem just as much of a set piece as the architecture depicted—a sociotope of digital readymades that the artist has purchased from databases. The standardization of external—and perhaps also internal—living environments that is chronicled by the construction sign extends to details such as the grid of screws that bore through the surface regardless of what is portrayed there.

 

 

Only at a second glance does the surface of the board reveal other, more organic signs of trauma, which become clearer over time. A dark stream of tears flows incessantly from the eyes of the five inhabitants of the complex, kept going by a solar-powered pump system. A gulf seems to exist between the perfect yet sterile world of the housing complex and the emotional state of its inhabitants, which has triggered the breaking of the taboo of crying in public.

 

 

The protagonists of Hoeft’s I feel you are quite clearly shedding artificial tears—tears have always been suspected of being manipulative rather than “genuine.” On the other hand, since the eighteenth century, criers (especially female) have been attributed the potential to educate a (predominantly male) counterpart to become more sensitive by those such as Jean- Jacques Rousseau. For, as an “expression of inner emotions, tears do not only pertain to the criers themselves; they have and have always had a communicative function.”[1]  And tears do not have to be real in order to emotionally move a counterpart, as all those who have ever cried in the cinema know. As an expression and sign of liveliness, tears create an “affect bridge”[2]  and draw attention to an element that is clearly lacking in the investor’s fantasy that is the construction sign.

 

 

[1] For greater detail see: Beate Söntgen and Geraldine Spiekermann, “Tränen. Ausdruck—Darstellung—Kommunikation. Eine Einführung” (Tears. Expression— Representation—Communication. An Introduction), in: id. (ed.), Tränen, Munich 2008, pp. 9–16, here p. 10.

[2] The term comes from the Romance scholar and rhetorician Heinrich Lausberg; see Söntgen/Spiekermann 2008, p. 12.